Der Fachverband für ambulant
begleitete Wohngemeinschaften

Sozialämter dürfen bei Kosten der Unterkunft nicht sparen

Rechtsgutachten stärkt Begleitern von ambulant betreuten Demenz-Wohngemeinschaften den Rücken: Besondere Bedarfe der Mieterinnen und Mieter sind bei Angemessenheitsprüfung wichtiger als Referenzmiete

Gelsenkirchen, im Mai 2017. Bei Mieterinnen und Mietern in ambulant begleiteten Demenz-Wohngemeinschaften, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, darf das Sozialamt nicht an den Kosten der Unterkunft als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt sparen. Die besonderen Bedarfe der Erkrankten sind bei der Angemessenheitsprüfung grundsätzlich höher zu bewerten als die örtliche Referenzmiete. Zu diesem Schluss kommt ein juristisches Gutachten, das der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft NRW bei den Sozialrechtlern Prof. Dr. Utz Krahmer (Düsseldorf) und  Prof. Dr. Sven Höfer (Freiburg) in Auftrag gegeben hat, um eine „möglichst objektive Bewertung der Rechtslage“ zu erhalten. Nach Angaben des Fachverbandes sind durchschnittlich bis zu 50% der Mieter in einer ambulant begleiteten Wohngemeinschaft auf Sozialhilfe angewiesen.

Ambulant betreute Wohngemeinschaften für an Demenz erkrankte Mieterinnen und Mieter müssen besondere Anforderungen an den Wohnraum erfüllen. Diese Anforderungen führen zu erhöhten Kosten. Immer mehr Sozialämter in NRW betrachten diese Kosten jedoch als unangemessen. Bei Mieterinnen und Mietern, die auf Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe) angewiesen sind, bewilligen die Behörden deshalb immer häufiger nur noch solche Unterkunftskosten, die auf Grundlage einer örtlichen Referenzmiete für einen alleinstehenden Empfänger von Grundsicherung oder Hartz IV gelten („schlüssiges Konzept“).

„Referenzmiete kann nur eine Zwischengröße sein“
Diese Praxis ist rechtlich nicht haltbar. Die Sozialrechtler Prof. Dr. Utz Krahmer und Prof. Dr. Sven Höfer kommen in dem Gutachten mit dem Titel „Sozialhilferechtlich anzuerkennende Unterkunftskosten für demenzerkrankte, materiell bedürftige Personen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften“ zu dem Schluss: „Während für „normalen“ Wohnraum in der Praxis die Referenzmiete die entscheidende Größe ist, kann sie bei Wohnraum in ambulant betreuten Wohngemeinschaften nur eine Zwischengröße sein. In den Wohngemeinschaften leben Menschen mit besonderen Bedarfen. Diese besonderen Bedarfe sind in die Angemessenheitsprüfung einzubeziehen. Für Wohnraum in ambulant betreuten Wohngemeinschaften kommt damit der Ebene der konkreten Angemessenheit besondere Bedeutung zu.“

Spannnungsverhältnis zwischen Leben in Würde und Spardiktat
Die Berücksichtigung der besonderen Bedarfslagen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften für an Demenz Erkrankte stehe dabei im Spannungsverhältnis zwischen dem Auftrag der Sozialhilfe, ein Leben in Würde und damit ein sozial integriertes Leben zu ermöglichen (s. Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG sowie § 1 SGB XII) auf der einen Seite und der Begrenzung der Sozialhilfeleistungen auf das Notwendige zur Bedarfsdeckung (§ 9 SGB XII) auf der anderen Seite, so die Juristen. Dieses könne nur durch eine strikte Orientierung an fachlichen Standards aufgelöst werden. „Die fachliche Notwendigkeit bestimmt die anzuerkennenden Sonderbedarfe und die in der Folge damit verbundenen Kosten. Für die baulichen und ausstattungsbezogenen Besonderheiten in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft bedeutet dies, dass nicht alles Wünschenswerte als sozialhilferechtlich angemessen gelten kann. Angemessen ist das unabweisbar fachlich Gebotene – dieses ist dann aber auch zu finanzieren und zwar unabhängig von abstrakt bestimmten Angemessenheitsgrenzen.

Fachverband „vollumfänglich bestätigt“
„Durch das Rechtsgutachten sehen wir unsere juristischen Bedenken gegen die restriktive Haltung der Sozialverwaltung vollumfänglich bestätigt“, sagt der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau aus Gelsenkirchen. „Die Kosten der Unterkunft in ambulant begleiteten Wohngemeinschaften sind nicht mit dem sozialen Wohnungsbau zu vergleichen. Ob Anforderungen an den Brandschutz oder Teilmöblierung, aber auch die ordnungsrechtlichen Vorschriften aus dem Wohn-Teilhabe-Gesetz – die Unterschiede liegen auf der Hand.“ Das Gutachten schaffe in einer Zeit wachsender Nachfrage die dringend benötigte Rechtssicherheit für Investoren und Pflegedienste, die Wohngemeinschaften begleiten oder aufbauen wollen, sagt der Dortmunder Sozialrechtler und wig-Justiziar Dieter Otto, der erste Klageverfahren gegen negative Bescheide des Gelsenkirchener Sozialamts führt. Zudem beruhige es die betroffenen Mieterinnen und Mieter sowie ihre Angehörigen, die schon fürchteten, wegen der Kürzungen die Wohngemeinschaften verlassen zu müssen.

Argumentationshilfe bei Klageverfahren
Die Ergebnisse des Gutachtens will der Fachverband vielfältig nutzen. Zum einen beschreibe es juristisches Neuland und werde zur juristischen Meinungsbildung beitragen, so der Fachverbandsvorsitzende Claudius Hasenau: „Auf der politischen Ebene können die Ausführungen als Grundlage zur Gestaltung der Gelingensfaktoren dienen und Orientierung bei weiteren Gesetzesvorhaben bieten.“

 

Der Fachverband wird das Material seinen Mitgliedern kostenfrei zur Verfügung stellen, sei es als Arbeitshilfe für Verhandlungen mit dem Sozialamt oder als Argumentationshilfe in Klageverfahren. Eine leicht gekürzte Version des Gutachtens veröffentlicht die Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF) in der Ausgabe Juli 2017. Nicht-Mitglieder erhalten das Gutachten für eine Schutzgebühr von 15,- Euro beim Fachverband unter www.wig-nrw.de