Der Fachverband für ambulant
begleitete Wohngemeinschaften

OVG-Urteil aus Münster bereitet Pflegediensten Kopfzerbrechen: Was macht eine WG zur WG?

Hauswirtschaftliche Versorgung als K-o.-Kriterium – wig Fachverband warnt: Entscheidung des OVG Münster bedroht Entwicklung der Wohngemeinschaften nicht nur in NRW und erklärt WGs zu „Kleinstheimen“

Tief besorgt zeigt sich der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft NRW über aktuelle Trends in der NRW-Rechtsprechung. Anlass bietet eine neue Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster (Beschluss vom 07.10.2016 – 4 B 777 / 16), die im Zuge eines Statusfeststellungsverfahrens ergangen ist.  Das Urteil verkürze konstitutive Merkmale und Charakteristiken von Wohngemeinschaften mit Betreuungsleistungen und deklariere sie auf diese Weise als „Kleinstheime“, warnt der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau, Gelsenkirchen. Folge man dieser Entscheidung, die die hauswirtschaftliche Versorgung als K-o.-Kriterium betrachte, bedeute dies das Ende der WG-Bewegung nicht nur in NRW. Der Fachverband kündigte Widerstand an.

Das OVG Münster hatte eine Statusfeststellung für eine Intensivpflege-Wohngemeinschaft mit ausschließlich wachkomatösen Patienten zu überprüfen. Die Merkmale dieser WG waren nach dem Tatbestand des erstinstanzlichen Beschlusses des VG Düsseldorf (Beschluss vom 16.06.2016 – 26 L 1626 / 16) wie folgt:

  • eine eigenständige Wohnung, in der möblierte Zimmer von dem Pflegedienst mit einem Mietvertrag vermietet wurden;
  • ein davon rechtlich getrennter „Geschäftsbesorgungsvertrag“ über das Haushaltskonto;
  • ein „Versorgungsvertrag“ über das Handling von Post und Briefen, die Regelung der finanziellen Dinge, die Leistung von Hilfen in persönlichen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten und die pflegerische Versorgung;
  • eine gebildete „Interessengemeinschaft“ der NutzerInnen, die auf einer Gründungsversammlung beschlossen hatte, sämtliche Betreuungs- und Pflegeleistungen von dem klagenden Pflegedienst erbringen zu lassen.

Bei der Interessengemeinschaft ist der Einzug auf die Zielgruppe von Personen mit spezialisierter Krankenbeobachtung beschränkt. Der Sprecher der Interessengemeinschaft verfügt über ein Einzugsentscheidungsrecht. Die Mitgliedschaft in der Interessengemeinschaft endet, wenn kein Bedarf mehr an der spezialisierten Krankenbeobachtung besteht oder wenn ärztliche Verordnungen von der Krankenkasse abgelehnt werden. Zudem spricht die Leistungsanbieterin im Internet von „Rundum-Betreuung in ‘unseren’ Wohngemeinschaften“.

Hauswirtschaft als
Hauptkriterium

Das OVG Münster kam zum Ergebnis, das Angebot als „Einrichtungen mit umfassendem Leistungsangebot“ (kurz: EULA, vulgo: Heim) einzustufen. Diese Entscheidung stützte sich maßgeblich auf das Argument, dass bei dieser Gestaltung die Hauswirtschaft nicht von den Nutzerinnen und Nutzern übernommen oder wenigstens mitbestimmt wird.

Lt. OVG Münster ist die Hauswirtschaft das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal zwischen einer EULA und einer WG: „Während das Leistungsangebot in Einrichtungen i. S. v. § 18 WTG auch eine umfassende hauswirtschaftliche Versorgung der Nutzer einschließt, führen die Nutzer von – sowohl selbst- als auch anbieterverantworteten – Wohngemeinschaften i. S. v. § 24 WTG einen gemeinsamen Hausstand, in dem sie oder ihre Vertreter die hauswirtschaftliche Versorgung im Wesentlichen selbst und eigenverantwortlich wahrnehmen.“ (RZ 9). Und weiter: „Kennzeichnend für diese Einrichtungen (i.e. die EULAs) ist danach, entsprechend ihrer gesetzlichen Bezeichnung, ihr umfassendes Leistungsangebot, das insbesondere auch vollumfänglich die hauswirtschaftliche Versorgung der Nutzer einschließt.“ (RZ 10). Eine WG liegt demnach lt. OVG nicht vor, wenn das Nutzergremium die Hauswirtschaft auf den Leistungerbringer übertragen hat und dieser jeden Handschlag übernimmt, ohne dass die Nutzerinnen und Nutzer oder das Nutzergremium einen bestimmenden Einfluss auf die hauswirtschaftliche Versorgung nehmen können (RZ20).

„Stationäres Element“
bei WGs nicht gegeben

Diese Argumentation sei „völlig falsch“, kritisiert der wig-Fachverbandsvorsitzende Claudius Hasenau: „Das maßgebliche Kriterium für eine EULA ist ihr Charakter als ,Einrichtung‘. Dabei handelt es sich um eine auf eine gewisse Dauer angelegte und für einen größeren, wechselnden Personenkreis bestimmte organisatorische Verbindung von sächlichen und personellen Mitteln zur Erreichung eines von dem Einrichtungsträger definierten Zwecks. Dies ist bei einer WG nicht der Fall.“

Im Sozialrecht richtet sich die „Einrichtung“ im Wesentlichen danach, ob das im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.02.1994 (BVerwGE 95, 150) definierte „stationäre Element“, wonach der Einrichtungsträger die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Hilfeempfängers übernimmt, gegeben ist oder nicht. Dies ist bei Wohngemeinschaften nicht der Fall, und zwar selbst dann nicht, wenn in hohem Umfang Leistungen von einem Dienstleister – gleich welcher Art – erbracht werden. In Wohngemeinschaften gibt keinen „Träger“, der „aufnimmt“ und gemäß seines Leistungskonzepts „bestimmt“. In Wohngemeinschaften ist ein Nutzergremium vorhanden, das delegiert. Im Gegensatz zu Wohngemeinschaften gibt es in EULAs keine in sich geschlossenen Wohnungen, weder baulich noch organisatorisch. Zudem ist Hausrechtsinhaber der Träger: Er bestimmt, was zu tun und zu unterlassen ist.

Gemeinsamer Hausstand
ist mehr als Versorgung

Zudem hält es WIG für rechtsirrig, den für Wohngemeinschaften essentiellen „gemeinsamen Hausstand“ auf die hauswirtschaftliche Versorgung zu reduzieren. Claudius Hasenau: „Die Hauswirtschaft ist nur ein Teilbereich. Hausstand bedeutet Zusammenleben, sich gegenseitig helfen und unterstützen (müssen), am täglichen Ablauf mitzuwirken – entweder selbst oder durch das soziale Umfeld wie Angehörigen oder Freunde. Sachmittel werden gemeinsam organisiert, das Lebensumfeld wird zusammen gestaltet – auch durch Professionelle. Wer welche Dienstleistungen in welchem Umfang erbringt, ist dabei sekundär. Entscheidend ist die trägerfreie Struktur.“

Über das Ziel
hinausgeschossen

„Das OVG hat, wohl geprägt durch eine Aversion gegen das zu beurteilende Angebot einer Intensiv-Beatmungs-WG generalisierende Ausführungen gemacht, die weit über das Ziel hinausschießen und nicht den Kern der Dinge treffen“, bedauert der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau. Folge man dem OVG Münster, so wäre dies das Ende der „WG – Bewegung“ in NRW – aber nicht nur dort. Hasenau: „Wehret den Anfängen“. Der Fachverband wird deshalb im ersten Halbjahr 2017 seinen Mitgliedern eine Kommentierung der WG-rechtlichen Regelungen des WTG zur Verfügung zu stellen, um ihnen in dem nun zu erwartenden Irrgarten der rechtlichen Auslegungen Orientierung und Hilfestellung zu bieten.