Der Fachverband für ambulant
begleitete Wohngemeinschaften
30. August | Aktuelles, News

Ambulante Pflege in WGs: Hinweise und Erläuterungen der aktuellen Streitfälle und Rechtsprechung

Sehr geehrte Damen und Herren,

An alle Mitglieder von wig Wohnen in Gemeinschaft e.V.

Sie werden in jüngster Zeit verschiedentlich über Fachzeitschriften  wie auch die Medien von der „Ablehnungswelle“ in Bezug auf Leistungen aufgrund von Verordnungen Häuslicher Krankenpflege gehört haben. Diverse besorgte Anfragen aus dem Kreis der Mitglieder veranlassen uns, wig Wohnen in Gemeinschaft e.V., als Bundesverband für Leistungserbringer und Patienten in ambulant betreuten Wohngemeinschaften, dieses Themaklarstellend aufzugreifen und Ihnen Hinweise für empfehlenswerte Maßnahmen zur Absicherung Ihrer Leistungserbringung und auch Vergütungen in von Ihnen begleitete Wohngemeinschaften zu geben.

Dieses SONDERRUNDSCHREIBEN steht Ihnen hier zum Download als PDF zur Verfügung

  1. Auslöser für die gegenwärtige Diskussion und aufscheinenden Besorgnisse

Die Diskussion ist aufgekommen, weil in den letzten Monaten die AOK Bayern in mindestens rd. 150 Fällen Maßnahmen der sog. „einfachen Behandlungspflege“ in ambulanten Wohngemeinschaften nicht mehr übernehmen  wollte und daher Kosten

übernahmen ablehnte und zwar mit dem Argument, dass die in Rede stehenden Medikamentengaben und Blutzuckermessungen als „einfachste Behandlungspflege“ von „jedem Erwachsenen“ erbracht werden könne, weswegen dies auch für Betreuungskräfte in Wohngemeinschaften gelte. Der (vergütungspflichtige)  Einsatz von für Maßnahmen nach SGBV qualifizierten Pflegekräften sei nicht erforderlich, da dies auch die Betreuungskräfte  in der Wohngemeinschaft leisten könnten und nach der Rechtsprechung  des BSG auch leisten müssten.

Drei vor dem Sozialgericht Landshut von den Patienten gegen die AOK – Ablehnungen gerichtete Klagen gab das Gericht statt. Es stellte zunächst fest, dass Wohnge­meinschaften mit unvollständigem,  modular aufgebautem Leistungsangebot,  das nicht dem Umfang einer Voll- oder Gesamtversorgung entspricht, „geeignete Orte“ i. S. d. § 37 Abs. 2 S. 1 SGBV für die Erbringung von Behandlungspflegen sein können, wobei dies ist zudem auch eindeutig in § 1 Abs. 1S. 1 der HKP – Richtlinie bestätigt sei. Ferner führte es aus, dass eine Wohngemeinschaft kein Haushalt sei, in dem ohne weiteres eine dort lebende Person Behandlungspflegen übernehmen könne und müsse (§ 37 Abs. 3 SGBV). Und das Gericht unterstreicht, dass es bei Wohngemeinschaften für den Betreuungsdienstleister keine gesetzliche Pflicht gebe, Behandlungspflegemaßnahmen als Teil der Betreuung zu leisten. Entscheidend war für das Sozialgericht dann auch, dass es für die Mieter in der fraglichen Wohngemeinschaft keine betreuungsvertragliche Pflicht zur Erbringung derartiger Behand­lungspflegen gab.

Nachdem die AOK Bayern gegen diese Urteile Berufung eingelegt hatte, entschied das Bayerische Landessozialgericht, dass der Anspruch der Patienten besteht, wo­ rauf die Berufung der AOK zurückgewiesen und die AOK zur Kostenübernahme verurteilt wurde. Das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor. Allerdings ließ das Landessozialgericht die Revision zu. Ob die AOK das Revisionsverfahren durchführt oder nicht ist derzeit noch offen.

  1. Rechtslage

Das Problem ist kein „bayerisches Problem“: Die von der AOK Bayern vertretene Rechtsauffassung  wird auch andernorts vertreten, wenngleich die Dinge bisher nur in Bayern derart eskaliert sind. Die angesprochenen Rechtsfragen sind Grundsatzfragen des SGBV und berühren alle Versorgungen in Wohngemeinschaften.

2.1 Erster Kernpunkt: Leistungserbringung „an geeigneten Orten“ -sind Wohn­gemeinschaften  geeignete Orte für die Erbringung behandlungspflegerischer Maßnahmen?

Zunächst geht es um die Frage, ob „ambulant betreute Wohngemeinschaften“  sog. geeignete Orte“ für die Erbringung von Behandlungspflegeleistungen sein können. Das ist der Fall, weil § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V und zudem auch eindeutig § 1 Abs. 1 S. 1 der HKP – Richtlinie dies regelt. Dort sind Wohngemeinschaften als gemeinschaftliche Wohnformen  explizit genannt.

2.2 Zweiter Kernpunkt: Wohngemeinschaften sind nur dann sog. „geeignete Orte“, wenn sie keine Versorgung auch mit Behandlungspflege „institutionalisiert“ leisten

  • 37 Abs. 2 SGB V geht von einer pflegerischen Versorgung in der Häuslichkeit aus, die dadurch geprägt ist, dass modular Einzelleistungen von dem Patienten organisiert und in Anspruch genommen werden. Eine solche modulare Einzelleistungs­struktur ist dann nicht gegeben, wenn das Leistungsbild in der „Häuslichkeit der Wohngemeinschaft“ – hier relevant- Behandlungspflege umfasst. Dies ist gesetzlich nicht gegeben. Es gibt keine Regelung -weder im SGB XI noch im SGBV und auch nicht im SGB XII, wonach „WG- Leistungsbilder“ auch behandlungspflegerische Maßnahmen,  erbracht etwa durch Präsenzkräfte, auch solche i. S. d. § 38 aSGB XI, umfassen. Sodann ist entscheidend, dass solche Behandlungspflegen auch nicht ln­halt von Betreuungsverträgen oder sonstigen „WG – Leistungsverträgen“ sein dürfen. Bei den oben skizzierten Wohngemeinschaften, die der Entscheidung des LSG München zugrunde lagen, war dies gegeben: Nur der Behandlungspflegevertragbe­ gründete Ansprüche auf behandlungspflegerische Maßnahmen.

2.3 Dritter Kernpunkt: Durchführung  sog. „einfache Behandlungspflegen“ als „Jedermann  – Fähigkeit“ -sind  Betreuungskräfte in der Wohngemeinschaft Personen, die als Erbringer von sog. einfachen Behandlungspflegen in Betracht kommen?

Rechtlich ist dieser Gesichtspunkt in § 37 Abs. 3 SGBV begründet, wo geregelt ist, dass „einfache Behandlungspflege“ zunächst von „im Haushalt des krankenleben­den Personen“ erbracht werden muss, wenn a) diese dazu befähigt sind und b) sie dazu bereit sind. Es besteht keine gesetzliche Zwangsverpflichtung und die  Krankenkassen können im Haushalt lebende Personen zur Erbringung von Behandlungs­pflegen auch nicht „einfach so“ zu diesen Tätigkeiten „zwangsverpflichten“. Wenn überhaupt eine Person im Haushalt in Betracht kommen könnte, so müsste diese dazu bereit sein. Voraussetzung ist aber stets ein persönliches  Näheverhältnis,  das eben durch das „Zusammenleben  in einem Haushalt“ begründet wird. Betreuungskräfte und sonstige Mitarbeiterinnen in Wohngemeinschaften leben schon nicht mit dem Behandlungspflegebedürftigen in einem Haushalt, so dass schon aus diesem Gesichtspunkt eine Heranziehung  von Betreuungskräften  in Wohngemeinschaften  zu diesen Leistungen nicht in Frage kommt. Angehörige der Pflegebedürftigen  leben ebenfalls nicht in der Wohngemeinschaft, sodass sie auch nicht als geeignete Personen, die verpflichtet sein könnten, in Betracht kommen

2.3 Zusammenfassendes Resumé

Die Versagung von Kostenübernahmen für einfache Behandlungspflegen kommt also in Wohngemeinschaften dann nicht in Frage, wenn das Leistungsbild der Wohngemeinschaft diese Leistungen nicht umfasst. Dies hat das erstinstanzlich das SG Landshut judiziert und das Bayerische LSG in München so bestätigt. Diese Rechtsprechung  entspricht der gesetzlichen Rechtslage.

  1. Hinweise zur Gestaltung der Leistungen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften in Bezug auf die „Behandlungspflege“

Daraus folgt für die Leistungsgestaltung in Wohngemeinschaften Folgendes:

  1. Die Versorgung in ambulant betreuten Wohngemeinschaften muss leistungsrecht­lich und Ordnungsrechtlich  sowieso als Wohnen in einem gemeinsamen  Haushalt der Mieterinnen  unter modularer Organisation von Betreuungs- und Pflegeleistungen gestaltet werden.
  2. 2. Behandlungspflegeleistungen dürfen nicht als Leistungen in Betreuungs, Service­ oder Präsenzdienstleistungsverträgen geregelt Dabei ist auch auf die Stellenbeschreibungen für die Präsenzkräfte (wie auch deren Tätigkeitsbilder in Arbeitsverträgen) und auch auf die entsprechende Leistungsbeschreibung in Leistungs-, Qualitäts- und Vergütungsvereinbarungen mit dem Träger der Sozialhilfe zu achten: Behandlungspflegeleistungen sind zwingend auszusparen.
  3. Höchstvorsorglich ist – unter dem Aspekt der „geeigneten Personen“ – darauf zu achten, dass das eingesetzte Betreuungspersonal möglichst keine entsprechenden Kompetenzen aufweist, also schon nicht befähigt ist, einfache Behandlungspflegen zu erbringen.
  4. Die Rechtsprechung des LSG München unterstreicht zudem die Richtigkeit der Strategie, die Leistungsbilder in Wohngemeinschaften zwischen „Präsenzbetreuung“ und „Pflege“ zu differenzieren und auch zwei Teams einzusetzen, nämlich ein „Prä­senz- und Betreuungsteam“  und ein „Pflegeteam“.

Wir hoffen, Ihnen mit diesen Erläuterungen und Hinweisen mehr Klarheit in die „Ka­kophonie“ der Stimmen gebracht zu haben.

Dieses „Sonderrundschreiben“ kann im Einzelfall ggfls. erforderliche Beratung nicht ersetzen.  Sollten Sie Fragen in Einzelfällen haben, so stehen Ihnen die Unterzeichner gerne für individuelle Beratung zur Verfügung (Kontakt am besten zunächst per eMail: Dr.Michei@RADrMichel.de).

Mit besten Grüßen und guten Wünschen

Claudius Hasenau                                                       Dr. Lutz H. Michel

1. Vorsitzender                                                             FRICS Rechtsanwalt