Fachverband warnt: Neue Definition schließt Intensivpflege-Wohngemeinschaften aus – „Hauswirtschaftliche Versorgung“ als Abgrenzungsmerkmal von WG und EULA ungeeignet – Entscheidend ist die Gesamtverantwortung der Mieter und Angehörigen
Gelsenkirchen, im Juli 2018. Die NRW-Landesregierung macht ernst mit der angekündigten Neuorientierung der Pflegelandschaft in NRW. Im sogenannten „Entfesselungspaket I“ gab sie bereits 2017 die bisherige strategische Festlegung der Landespflegepolitik zur Stärkung ortsnaher, kleinteiliger ambulanter Angebote auf. Nun soll das 2015 von allen Fraktionen noch einstimmig beschlossene „Wohn-Teilhabe-Gesetz“ (WTG) verändert werden.
Alle maßgeblichen Akteure der Pflege sind aufgerufen, bis Mitte Juli ihre Positionen zum vorgelegten WTG-Änderungsgesetz zu formulieren. Auch der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft wird nach eingehender Prüfung des Gesetzesvorschlags eine Stellungnahme abgeben. „Als Stimme der Wohngemeinschaften in NRW wird wig sich deutlich positionieren mit dem Ziel, Wohngemeinschaften in NRW als Teil der Regelversorgung zu stärken!“ kündigte der Fachverbandsvorsitzende Claudius Hasenau an.
Wohnform der ambulant betreuten WG bleibt im Grundsatz unangetastet
„Licht und Schatten“ erkennt der Fachverband nach einem ersten Blick auf die geplanten Änderungen. „Erfreulicherweise bleibt die in NRW seit Jahrzehnten etablierte Wohnform der ambulant betreuten Wohngemeinschaften im Grundsatz unangetastet“, so der wig Vorsitzende Claudius Hasenau. Der Fachverband begrüße dies ausdrücklich: „Wir nehmen die Landesregierung beim Wort, wenn sie eine Gleichrangigkeit der Angebote postuliert.“
Ordnungsrechtliche Stärkung der Wohnform nicht vorgesehen
Eine explizite ordnungsrechtliche Stärkung der WG’en kann wig im Regierungsentwurf allerdings nicht erkennen. wig-Verbandsjustiziar Dr. Lutz H. Michel: „Der Regierungsentwurf versucht, die Einrichtungen mit umfassendem Leistungsangebot (EULA) klarer von den Wohngemeinschaften abzugrenzen, das geht in die richtige Richtung. Allerdings ist das dazu in die Definition eingeführte Merkmal der „obligatorischen Abnahme umfassender Leistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung“ nicht das entscheidende Abgrenzungskriterium. Maßgeblich ist vielmehr: Wohngemeinschaften sind keine Einrichtungen mit einer Gesamtversorgung unter der Gesamtverantwortung eines Trägers: Das muss klargestellt werden!“
Anhäufung unbestimmter Rechtsbegriffe
Mit großer Sorge sieht WIG die geplante Ergänzung des § 24 Abs. 1 WTG um eine in höchstem Maße auslegungsfähige neue Formulierung, die Teil des Begriffes „Wohngemeinschaft“ werden soll: Wohngemeinschaften mit Betreuungsleistungen sollen nur dann vorliegen, wenn in ihnen Menschen mit Behinderungen oder Pflegebedarf „mit dem Ziel regelmäßiger Interaktion“ gemeinschaftlich zusammenleben. „Was heißt Interaktion? Was heißt Ziel? Und: was heißt regelmäßig?“ fragt der wig Vorsitzende Claudius Hasenau. Der Fachverband sieht diese Anhäufung unbestimmter Rechtsbegriffe kritisch. „Ordnungsrecht und insbesondere das Ordnungsrecht der Betreuungswohnformen verlangt klare Worte: Weder den Anbietern noch den WTG – Behörden ist mit Vagheit und neuen Begriffen gedient. Rechtsanwälte benötigen Rechtsbegriffe: Interaktion ist kein Rechtsbegriff. Es handelt sich um einen in der Soziologie und Psychologie geläufigen Begriff, mit dem ein aufeinander bezogenes soziales Handeln zweier oder mehrerer Personen oder die Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Handlungspartnern bezeichnet wird.“
Keine Nutzergruppen ausschließen
Der Fachverband fragt sich, wie dies im Ordnungsrecht handhabbar sein soll. Die Begründung des Regierungsentwurfs ziele auf Intensivpflegewohngemeinschaften ab. Aber auch dort gebe es „Interaktion“. Claudius Hasenau: „Auch komatöse Patienten können sich äußern und tun dies mittels winziger Zeichen. Sie verändern die Atemfrequenz, blinzeln mit den Augen, bewegen den Mund – insbesondere in der Beziehung zu Angehörigen. Was soll dann dieses neue Begriffsungetüm?“. WIG warnt dringend davor, eine „Nutzergruppe“ auszuschließen. Claudius Hasenau: „In seiner Berliner Zeit als Pflegebevollmächtigter des Bundes hat der heutige NRW-Pflegeminister Laumann die These formuliert: Alle Beatmungspatienten gehören in Heime oder Krankenhäuser. Dieses Dogma lehnt der Fachverband wig kategorisch ab. Die Realität zeigt, dass Wohngemeinschaften mit ihrem familiären Charakter deutlich besser als Lebensort für schwerstpflegebedürftige Menschen geeignet sein können.“
Stärkung der Angehörigen ist zu begrüßen
Positiv bewertet der Fachverband wig die Stärkung der Angehörigen im neuen Gesetzentwurf. Die von WTG-Behörden zuweilen bestrittene Vertretungsbefugnis von in Wohngemeinschaften lebenden Menschen durch ihre Angehörigen wird klargestellt. Der Gesetzentwurf erkennt ausdrücklich Vertreterhandeln an, wenn die Nutzerinnen und Nutzer ihren gemeinsamen Hausstand nicht (mehr) führen können oder wollen. Dies entspricht einem Vorschlag, den WIG bereits in der Vorphase der WTG-Überarbeitung formuliert hatte. Dr. Lutz H. Michel: „Wir freuen uns, dass der Regierungsentwurf unseren Vorschlag aufgenommen hat. Aber: Sollte das Merkmal der „Interaktion“ tatsächlich Gesetz werden, so muss sich die Vertretungsbefugnis auch auf die Interaktion beziehen!“ Was damit gemeint ist, verdeutlicht der wig Vorsitzende Claudius Hasenau aus seiner langjährigen Erfahrung in der Begleitung von Wohngemeinschaften: „Im Zusammenleben einer WG macht es keinen Unterschied, ob die Mieterinnen und Mieter selbst miteinander interagieren oder ob ihre Angehörigen oder VertreterInnen dies in ihrem Namen tun. Beides ist für das gemeinschaftliche Leben gleichermaßen konstitutiv, bedeutend und wertvoll.“
Einordnung erleichtern
Mit der Ergänzung des § 25 WTG um einen weiteren 4. Absatz strebt der Regierungsentwurf an, den Beteiligten mehr und differenzierte Instrumente für die Abgrenzung zu geben. WIG begrüßt vor allem die Stärkung des Nutzerwillens, die in der Passage zum Ausdruck kommt. Claudius Hasenau: „Wohngemeinschaften sind häufig fragile Gebilde. Bei der Differenzierung der unterschiedlichen Typen sind alle Aspekte, die die Einordnung erleichtern können, von Bedeutung. Dazu gehört auch, dass Angehörige und andere VertreterInnen einbezogen werden.“