Gelsenkirchen, im November 2017. wig goes hip-hop! Mit diesem Geburtstagsständchen hatten die Gäste der Fachtagung „Finden – binden – qualifizieren: Erfolgreiche Personalgewinnungsstrategien für ambulant begleitete Wohngemeinschaften“ zum zehnjährigen Bestehen des Fachverbands wig wohl nicht gerechnet. Drei junge Hip-Hopper aus dem Ruhrgebiet – in der Szene bekannt als SSP – Stein, Schere, Papier – eröffneten die Tagung mit einem Wohngemeinschafts-Rap. Nach der ersten Verblüffung fuhr der Beat in die Versammlung: „Manchmal kommt man an nen Punkt, an dem man in Gemeinschaft / Dinge besser regeln kann, die man nicht gut allein packt, / aber es gibt Hilfe, die die Dinge dann vereinfacht, / viel mehr kann man erreichen wenn man Schicksale vereint hat.“ So munter und kurzweilig wie zu Beginn ging es weiter – mit Grußworten, Impulsvorträgen, Gesprächsrunden und kreativen Pausen, unterhaltsam und kundig moderiert von dem Journalisten Martin von Berswordt-Wallrabe. Und als die SSP-Crew statt einer Schlussrunde ihre Sicht auf den Kongress im coolen Hip-Hop-Style zusammenfasste, gab’s Riesenapplaus.
Von außen betrachtet hat der Fachverband viel Grund zur Freude. Nach schwierigen Anfangsjahren, in denen die wig Gründer mit ihren WG-Ideen verlacht und verspottet wurden, gibt es heute allein in NRW mehr als 600 ambulant begleitete Wohngemeinschaften, in denen etwa 5.000 Frauen und Männer über 70 leben. Die Zufriedenheit der Mieterinnen und Mieter, aber auch ihrer Angehörigen ist in wissenschaftlichen Studien ausreichend dokumentiert. In einer Umfrage gab kürzlich jeder fünfte Befragte an, er würde am liebsten in einer Wohngruppe leben, sollte er einmal an Demenz erkranken. Die Nachfrage nach dieser neuen Wohnform wächst dynamisch. Wartelisten sind üblich. Und das aktuelle Angebot zeigt gerade einmal eine befriedigte Nachfrage von 1,8%.
Dass der 10. Geburtstag von wig, der am Vorabend mit einer Gala zur Verleihung des ERGO wig Zukunftspreises 2017 begonnen hatte, trotz der positiven Entwicklung nicht nur eitel Sonnenschein bedeuten kann, machte der Gründungsvorsitzende Claudius Hasenau bereits in seinem Grußwort klar: „Die Probleme sind nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Noch nie war unser Fachverband so wichtig wie heute. Wir brauchen uns nur die Situation vor der eigenen Haustür anzuschauen. Bei der Umsetzung des Wohn- und Teilhabegesetzes auf kommunaler Ebene blicken wir auf einen Flickenteppich unterschiedlichster rechtlicher Entscheidungen. Fachleute sprechen von einer teilweise chaotischen ordnungsrechtlichen Prägung, die sowohl Investoren als auch Begleiter der neuen Wohnformen verunsichert.“ Der Fachverband erlebe in NRW momentan in Teilbereichen eine rückwärtsgewandte Pflegepolitik, die ihn mit großer Sorge erfülle. Claudius Hasenau: „Dass der neue Pflegeminister Karl Josef Laumann bereit ist, den Grundsatz ambulant vor stationär in NRW aufzugeben, hat er im Entwurf des sogenannten Entfesselunggesetzes angekündigt. Auch das erst 2014 von allen Parteien einstimmig beschlossene Wohn- und Teilhabegesetz trägt neuerdings ein Verfallsdatum, es soll – so die Landesregierung – im ersten Halbjahr 2018 reformiert werden. Die generalistische Ausbildung wird nicht dazu führen , dem dramatischen Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Das alles sind Nachrichten, die unsere Branche stark beunruhigen. Statt Kontinuität und Verlässlichkeit macht sich in Düsseldorf wieder parteipolitischer Aktionismus breit.“
Das vollständige Grußwort von Claudius Hasenau lesen Sie hier.
Dass es auch anders gehen kann, wenn Kommune und Anbieter beginnen, Hand in Hand zu arbeiteten, machte Luidger Wolterhoff, Sozialdezernent der Stadt Gelsenkirchen, in seinem Grußwort zur Veranstaltung deutlich. Er äußerte sich auch zu Qualitäts- und Leistungsvereinbarungen sowie zum Problem „Kosten der Unterkunft“ bei Sozialhilfe-Empfängern. Wolterhoff: „In Gelsenkirchen legen wir Wert darauf, dass sich die lokale Versorgungslandschaft durch qualitativ gute Pflege und differenzierte Leistungen auszeichnet. In diesem Sinne ist die Pflege in ambulant betreuten Wohngemeinschaften ein Modell, welches wir auch in Zukunft als wichtigen Baustein in unserer Versorgungslandschaft sehen.“ Bei der Zusammenarbeit mit den lokalen Anbietern in der Pflege setze die Kommune auf transparente Verfahren und klare Strukturen. Wolterhoff: „Wir freuen uns, dass in unserer Stadt im vergangenen Jahr gemeinsam mit den Anbietern von Betreuungsleitungen in ambulanten Wohngemeinschaften eine Rahmenvereinbarung entwickelt wurde, die den Inhalt, den Umfng und die Qualität der Betreuung regelt. In diesem Jahr haben wir zudem einen klaren Vergleichsmaßstab definiert, nach dem die Kosten der Unterkunft in einem angemessenen Umfang berücksichtigt werden können. Damit ist es gelungen, über 50 Prozent der Plätze in den ambulanten Wohngemeinschaften für Sozialhilfeempfänger verfügbar zu machen und ihnen damit das Wahlrecht ihrer Unterkunft zu gewährleisten.“
Das vollständige Grußwort von Luidger Wolterhoff, Sozialdezernent der Stadt Gelsenkirchen, lesen Sie hier.
In seinem Impulsreferat „Mitarbeiterbindung ist lernbar – Erfolgreiche Personalgewinnungsmaßnahmen für Pflegedienste mit ambulant betreuten Wohngemeinschaften“ nahm der Organisationsberater und Personalexperte Thomas Sießegger aus Hamburg kein Blatt vor den Mund. Die heutige Zeit und noch viel mehr in der Zukunft werde die Nachfrage nach ambulant erbrachten Dienstleistungen rund um Pflege, Hauswirtschaft und Betreuung größer sein als das, was alle Pflegedienste und alle pflegenden Angehörigen zusammen werden leisten können. Mitarbeiterorientierung werde in Zukunft für die Pflegedienste bedeutender sein als reine Kundenorientierung. Die Frage laute nicht mehr: Was wollen die Arbeitgeber von Mitarbeitern? Sondern: Was wollen die Mitarbeiter vom Arbeitgeber? Sießegger: „Pflegedienste, die am Markt bestehen wollen, müssen deshalb die wirklichen Bedürfnisse und Wünsche der Mitarbeiter genau analysieren. Einmal gewonnen müssen die Mitarbeiterinnen aber auch nachhaltig zufrieden mit ihre Arbeitsplatz sein und ihren Arbeitsbedingungen sein.“ Besonders wichtig seien neben einer angemessenen Bezahlung eine Übernahme in unbefristete Verträge. Sießegger empfahl den Begleitern von Wohngemeinschaften außerdem, die besonderen Vorteile eines Arbeitsplatzes in einer WG bei ihrer Personalakquise deutlich in den Vordergrund zu stellen. Es gebe Mitarbeitende, die genau dieses Profil suchten: zum Beispiel das Arbeiten an einem festen Ort, die Kontinuität in den Beziehungen zu den Mieterinnen, Mietern und Angehörigen, die verlässlich planbaren Dienstzeiten, die weitgehend freie Zeiteinteilung, das Arbeiten im Team mit Menschen zwischen 60 und 100 Jahren.
Den vollständigen Vortrag von Thomas Sießegger lesen Sie hier.
Nur gut 30 Minuten dauerte die anschließende Gesprächsrunde „Ambulant betreute Wohngemeinschaften 2030 – vom Exoten zum Regelangebot?!“, ihr Gehalt jedoch hätte eine eigene Fachtagung füllen können. Wie sich ambulant begleitete Wohngemeinschaften von stationären Einrichtungen unterscheiden, machten die Angehörigenbotschafterinnen Martina Warich und Ute Schenke deutlich. „Ich habe drei Angehörige bis zum Schluss in einer Wohngemeinschaft begleitet. Nach ihrem Tode engagiere ich mich ehrenamtlich,“ berichtete Martina Warich. Für sie komme im Alter nur diese Wohnform in Frage: „Ich wünsche mir, dass ich dafür nicht extra eine Demenz entwickeln muss. Wir brauchen auch begleitete Wohngemeinschaften für andere Bedarfsformen.“ Seit mehr als sieben Jahren lebt Ute Schenkes Schwester als Demenzkranke in einer WG, Ute Schenke besucht sie mindestens drei Mal pro Woche: „Dabei ziehen wir uns nicht in ihr Zimmer zurück, sondern sitzen immer mittendrin.“ Sie hat einen Schlüssel zur WG und kann jederzeit kommen: „In der WG kümmert man sich besser um meine Schwester als ich das jemals tun könnte. Die Menschen, die dort arbeiten, sind mir ans Herz gewachsen. Nach meinem Besuch kann ich abends unbesorgt nach Hause gehen und weiß: Meine Schwester ist liebevoll versorgt.“
Der Arbeitsplatz Wohngemeinschaft könne für Pflegekräfte eine ganz besondere Attraktivität entwickeln, prophezeite der Organisationsberater und Personalexperte Thomas Sießegger aus Hamburg. Spätestens bis 2030 müsse es den Pflegediensten gelingen, die Vorteile von Arbeit und Pflege in WG’en positiv herauszustellen und auf diese Weise die passenden Mitarbeiter zu finden und zu binden. Sießegger: „Dann könnte es durchaus sein, dass ambulant betreute Wohngemeinschaften vom Fachkraftmangel in der Pflege gar nicht betroffen sind.“
Hermann Josef Thiel, Geschäftsführer der TERRANUS Consulting GmbH, einer der führenden Beratungsgesellschaften im Bereich der Sozialimmobilien, plädierte auf dem Podium für mehr Markt und weniger Dirigismus in der Pflege. Thiel forderte: „Wir brauchen keine Bevorzugung ambulanter Versorgung, sondern eine Verbindung von ambulant und stationär.“ Ziel staatlicher Pflegepolitik müsse es sein, adäquate Versorgungssettings für jeden nach seinen Wünschen zu gewährleisten. Dazu gehörten vollstationäre Pflegeeinrichtungen genauso wie Wohngemeinschaften und andere Angebote.
Roland Weigel,Geschäftsführer der Konkret Consult Ruhr GmbH in Gelsenkirchen und Mitglied der wig Jury, zählt zu den erfahrensten Unternehmens- und Entwicklungsberatern für Wohngemeinschaften in NRW. Er rief die Unternehmen dazu auf, sich bei der Planung neuer Angebote nicht von möglichen Stolpersteinen ablenken zu lassen und über schlechte Bedingungen zu klagen, sondern „mehr Mut“ zu beweisen: „Die Nachfrage ist da, jetzt ist die Zeit zur Gründung. Die Gelingenfaktoren für erfolgreiche Konzepte und Begleitung von Wohngemeinschaften sind beschrieben. Es gibt vielfältige Informations- und verlässliche Unterstützungsangebote für Gründer, Begleiter und Investoren, zum Beispiel den Fachverband wig. Deshalb lautet unser Leitsatz: Think big and positive.“
Claudius Hasenau, wig Gründungsvorsitzender und Geschäftsführer der APD Ambulante Pflegedienste Gelsenkirchen GmbH, zeigte sich zuversichtlich, dass ambulant betreute Wohngemeinschaften in Zukunft ein Regelangebot sein werden, – nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land. Das zeige das Ergebnis von Studien, aber auch die ausgezeichneten Konzepte aus Oelde oder Neuenrade beim ERGO wig Zukunftspreis 2017. Parallel erweiterte Hasenau den Blick in seiner Zukunftsvision von den WG’en auf die gesamte Pflegelandschaft: „Ich wünsche mir, dass die Pflege in unserem Lande endlich den guten Ruf bekommt, der ihr zusteht. In den WG’en, aber auch an unzähligen anderen Orten, leisten diese Frauen und Männer jeden Tag rund um die Uhr herausragende Arbeit. Ich wünsche mir, dass sich die Pflege emanzipiert. Sie muss schnellstmöglich laut und vernehmlich ihre Stimme erheben, so wie es uns andere Berufsgruppen, zum Beispiel die Erzieherinnen, vorgelebt haben. Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein, dann wird die Pflege auch nicht länger der Spielball von kommunalen oder politischen Interessen sein.“
Foren zu Theorie und Praxis der ambulant betreuten Wohngemeinschaften spielen auf dem wig Fachkongress seit vielen Jahren eine wichtige Rolle. In Kurzvorträgen fassen die Referenten, unterstützt durch einen Gastgeber, die zentralen Ergebnisse verständlich und praxisnah zusammen. Anschließend stehen die Vorträge den Teilnehmenden und interessierten Dritten zum Download zur Verfügung.
Alle Foren und Vorträge finden Sie zum Download hier.