Systembrüche, Schwachstellen, Verkomplizierungen: WG-Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft kritisiert Reform-Ideen in einem Sieben-Punkte-Papier – Hauptkritik: Einseitige Stärkung der stationären Pflege zu Lasten der ambulanten Angebote geht an den Wünschen der Pflegebedürftigen vorbei – „Ein Anschlag gegen die Pflege in Deutschland“
Gelsenkirchen, im November 2020. Systembrüche, Schwachstellen und Verkomplizierungen zu Lasten der Pflegebedürftigen sowie der stationären und ambulanten Leistungsanbieter: Der WG-Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft stellt den vor wenigen Tagen bekannt gewordenen „Eckpunkten der Pflegereform 2021“ des Bundesgesundheitsministeriums ein verheerendes Zeugnis aus. Die Ideen aus dem Hause Spahn würden zu einer einseitigen Stärkung der stationären Pflege führen – und zu einer Schwächung der ambulanten Angebote, so der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau. Der Verband bewerte es zudem als „dreisten Anschlag auf die Pflege“, wenn ein Bundesminister aus politischem Kalkül in Pandemie-Zeiten einen Vorschlag präsentiere, der dringend breiteste Diskussion erfordere, die die Pflege aber aktuell gar nicht leisten könne.
Eckpunktepapier Pflegereform 2021 – hier zum Download.
Anstatt eine Pflegereform als „Hauruck-Aktion“ durchzupeitschen, fordert der WG-Verband eine Aufteilung des Reformwerkes in zwei Schritte. Als Sofortmaßnahme dringend angezeigt sei eine schnelle, systemkonforme Entlastung der Pflegebedürftigen durch die Anhebung der ambulanten und stationären Pflegesachleistungspauschalen um mindestens 10 % zum 1. Januar 2021. Als zweiten Schritt empfiehlt der Verband die Eröffnung eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses über die „Zukunft der Pflege in Deutschland 2030“ mit dem Ziel, in der kommenden Legislaturperiode eine Gesetzeswerk aufzusetzen, das die Bezeichnung „Pflegereform“ auch wirklich verdiene.
Gemeinsam mit wig-Justiziar Dr. Lutz H. Michel FRICS antwortet der wig-Vorstand mit einem Acht-Punkte-Papier auf die Ideen des Bundesgesundheitsministers zur Reform der Pflegeversicherung, die schon im kommenden Jahr Gesetzeskraft erlangen sollen. Hier die Acht-Punkte-Replik:
1. Stärkung der vollstationären Pflege geht an den Wünschen der Menschen vorbei
Die vorgesehene Deckelung der pflegebedingten Eigenanteile stützt eine überholte Versorgungsform, die weder von den pflegebedürftigen Menschen von ihren Angehörigen gewünscht wird. Gerade in der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie haben sich Heime als „Todesfalle“ für tausende und „Einsamkeitsfalle“ für hunderttausende Bewohnerinnen und Bewohner herausgestellt. Die Klie-Studie aus 2018 hat aufgezeigt, dass die Menschen keine Heimversorgung wollen, sondern das Leben und Gepflegtwerden in einem Zuhause bevorzugen. Anstatt im Gießkannenverfahren pflegebedingte Eigenanteile zu deckeln und damit rd. 1 Mrd. Euro in eine ungeliebte Versorgungsform zu stecken, ist dieser Betrag besser in die Förderung der Vielfalt der von den Menschen gewünschten Pflegewohnformen – vom Ambulant Betreuten Wohnen zuhause über Betreutes Wohnen bis hin zu ambulant betreuten Wohngemeinschaften investiert. Nachhaltigkeit und Zukunftsfestigkeit zu schaffen, bedeutet Herstellung der Gleichwertigkeit aller Pflege- und Betreuungsformen, um dem Wunsch- und Wahlrecht der Menschen nachzukommen.
Insofern werden durch den geplanten Investitionskostenzuschuss i. H. v. 100 € je Platz und Monat zusätzlich weitere Fehlanreize geschaffen: Für Investoren wird es wieder interessanter, klassische 80- bis 100-Betten-Pflegeheime zu bauen anstatt in ortsnahe, kleinteilige und damit auch für bürgerschaftliches Engagement geöffnete Angebote zu investieren. Inhaltliche Vorschläge von Initiativen wie z. B. von „SONG – Netzwerk Soziales neu gestalten“ und anderen scheinen an der Bundesregierung, mindestens aber am Bundesgesundheitsminister, vorbeigegangen zu sein. Wenn Zukunftsfestigkeit das Ziel der Pflegereform 2021 ist, so kann dies in Bezug auf die Wohnkosten nur erreicht werden, wenn der länderspezifische Investitionskostendschungel ein für alle Male beseitigt wird: Auch im Pflegeheim wird gewohnt. Das zwingt zu einer einheitlichen subjektiven Mietkostenförderung in Bezug auf alle Wohnangebote mit Unterstützungs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen („Bundespflegewohngeld für alle Seniorenwohnformen“). Die in den Eckpunkten propagierte internetbasierte Heimplatzsuche wird bundesweit scheitern, so wie sie schon in einzelnen Bundesländern gescheitert ist – auch hier: ein weiteres Millionengrab zu Lasten der Pflege.
Zur ambulanten Pflege finden sich in den Eckpunkten viele positive Ansätze, die häusliche Versorgung zu stärken, die aber durch nicht zielführende Maßnahmenvorschläge konterkariert und damit „neutralisiert“ werden.
Mit der geplanten einmaligen Erhöhung der Pflegesachleistungen um 5 % und deren Ankoppelung an die Inflationsrate ab 2023 stellt sich die Bundesregierung ein Armutszeugnis aus: Die Pflegesachleistungsbeträge wurden nach 2015 letztmalig zum 01.01.2017 erhöht. Die Erhöhungen der vergangenen Jahre betragen rd. 1 % pro Jahr. Seitdem sind allein die Personalkosten der ambulanten Dienste um jährlich rd. 4 % gestiegen, ohne dass eine Anpassung der Sachleistungspauschalen erfolgt wäre. Die Steigerungen der Sachkosten inkl. der Ausbildungsumlagen bewegen sich in ähnlicher Höhe. So ist seit 2015 eine Kluft zwischen Pflegekosten und Sachleistungspauschalen von rd. 15 Prozentpunkten entstanden.
Die Folge dessen war, dass die ambulant versorgten Patienten in „Pflegesparprogramme“ gestürzt worden sind: weniger Leistungen für’s gleiche Geld. Die Hilfe zur Pflege spielt in der normalen häuslichen Versorgung praktisch keine Rolle, da die Sozialhilfeträger Bedarfe nach Kassenlage gewähren. Mit der angedachten Anpassung wird dieser Trend nicht gebrochen.
Die vorgesehene Zulassungsvoraussetzung der Bezahlung von Tariflöhnen, so richtig sie ist, wird zu einer Kostenexplosion bei den ambulanten Pflegekosten führen, die trotz der Erhöhung der Pflegesachleistungen wieder zu einer Reduzierung des Leistungsabrufs führen wird. Dies ist beredter Ausdruck sinnfreier Disruption: Entlastung der Heimbewohner mit dem Effekt der verstärkten Einschleusung von Pflegebedürftigen in vollstationäre Einrichtungen – gegen ihren erklärten Willen – auf der einen Seite und Provokation von untragbaren pflegerischen Zuständen in der Häuslichkeit auf der anderen Seite. Zuhause gepflegte Menschen werden noch stärker als Pflegebedürftige 2. Klasse abgestempelt.
Vorschub hierfür leistet auch die geplante Schaffung eines „Entlastungsbudgets“. Es ist zu befürchten, dass dies zu stärkerer Inanspruchnahme von Kombinationsleistungen führt und die Tendenz zur Zweckentfremdung des Pflegegeldes fördert: weniger Pflege für die Pflegebedürftigen, mehr freie Mittel für das Spaßvergnügen der „sparpflegenden“ Angehörigen.
Dazu passt „perfekt“ die Reservierung von 40 % des Entlastungsbudgets für „Ersatzpflege“: Die wirksamste Entlastung von Angehörigen ist nach allen Erfahrungen die stundenweise Verhinderungspflege, diese wird aber auf 1.800 € gedeckelt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass damit die Aufwendungen für die Inanspruchnahme des Entlastungsbudgets faktisch gedrückt werden sollen. Die Erhöhung auf 3.000 € ist dann so gesehen nur – (wahl)werbewirksame – Optik. Mit „zielgenauer“ Ausgestaltung, wie die Eckpunkte suggerieren, hat das nichts zu tun. Zudem werden durch dieses Vorhaben die Betreuungsdienste, die gerade erst aus der Taufe gehoben worden sind, empfindlich getroffen: Sie leisten ganz überwiegend stundenweise Verhinderungspflege, die jetzt auf einmal in Ungnade gefallen zu sein scheint.
Die Idee der zukünftig möglichen Kombination von Komplexleistungen und Zeitleistungen geht von der unrichtigen Prämisse aus, dass gegenwärtig von den ambulanten Pflegediensten Leistungen erbracht werden, die die Pflegebedürftigen nicht „wirklich benötigen“. Das ist aber nicht der Fall – siehe bereits oben: In der Regel werden Leistungen nur bis zur Ausschöpfung der Sachleistungspauschale beauftragt, die für angemessene Pflege stets nicht ausreicht. Sparpflege ist heute schon die Regel. Dem wird durch die beabsichtigte „Flexibilisierung“ noch weiter Vorschub geleistet: Mehr Spazierengehen statt mehr Grundpflege wird die Folge sein. Dazu kommt, dass ein Nebeneinander der Inanspruchnahmen nicht praktikabel ist und unnötigen Verwaltungsaufwand im Rahmen der Leistungsabrechnungen verursacht.
Noch stärker wird die in den Eckpunkten vorgesehene Möglichkeit der Umwandlung von 40 % der Pflegesachleistungen in die Vergütung von 24 – Stunden – Betreuungspersonen der zitierten Sparpflege Vorschub leisten. Es stellt einen Schlag in das Gesicht von qualitätsgesicherten ambulanten Pflegediensten dar, wenn sie auf diese Weise faktisch mit Grauzonenangeboten gleichgesetzt werden. Es ist skandalös, wenn die Bundesregierung den ambulanten Pflegenotstand durch die Verlagerung von Leistungen auf minderqualifizierte und billigere Leistungserbringer bekämpfen will. Wenn die Eckpunkte auf „bestimmte Bedingungen“ abheben und in einem Atemzug die Angebote zur Unterstützung im Alltag nennen, wird klar, dass hier eine „Spahn-Spar-Mogelpackung“ erschaffen werden soll. Mit einer Stärkung der häuslichen Pflege hat das nichts zu tun.
Das Ziel der Hebung von Effizienzreserven bei ambulanten Pflegediensten, mag gut gemeint sein, wird aber kaum durch mehr Regulatorik in Bezug auf den Zuschnitt der Versorgungsgebiete und schon gar nicht durch eine Stärkung der Rolle kommunaler Akteure erreicht werden. Die Stärkung der Kommunen in der Pflege ist schon in der Vergangenheit kontraproduktiv gewesen: Sie hat mehr Politisierung des kommunalen Pflegegeschehens, eine Stärkung der Sozialhilfeträger zu Lasten der Pflegebedürftigen und mehr Bürokratie für die Dienste bewirkt. Wie überfordert die Kommunen in der Pflege sind, zeigen die Erfahrungen mit kommunalen Stellen in der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie. Noch mehr Aktionismus der Kommunen ist den Diensten und den von ihnen versorgten Menschen nicht zuzumuten.
Angesichts dessen klingt es wie Hohn, wenn in demselben Atemzug die Worthülse der Entlastung der ambulanten Dienste von Bürokratie gebraucht wird. Wenn bei der Leistungserbringung und -abrechnung eine Entbürokratisierung erreicht werden soll, so ist an der vielfach rechtswidrigen, fachlich völlig unangemessenen Ablehnungspraxis vieler Pflegekassen anzusetzen. Sie produziert Aufwand bei den ambulanten Diensten. Die überbordenden Verwaltungsapparate der Kassen nehmen den Beitragszahlern, vor allem aber Pflegebedürftigen Geld weg, das in mehr Pflegequalität besser investiert wäre.
Völlig abstrus werden die Überlegungen der Eckpunkte, wenn sie erneut und nicht belegt die Mär von Fehlanreizen im Versorgungssystem zum Ausgangspunkt nehmen, um von älteren Menschen gewünschte Betreuungssettings abzuwerten und zu behindern. Die in den Raum gestellten Studien, die die Insuffizienz kombinierter Settings im Bereich des Betreuten Wohnens belegen sollen, gibt es nicht. Eine „unangemessene“ Privilegierung ist nicht ersichtlich. Weder ist klar, wo überhaupt eine Privilegierung liegt, noch ist klar, wieso die heutige Refinanzierung „unangemessen“ sein soll. Es wundert, dass die politisch gewünschte Tagespflege über die Hintertür wieder partiell abgeschafft werden soll. Entweder gilt das Ziel, ein Wohnen so lang wie möglich in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen, oder es gilt nicht mehr. Dann soll auch klar kommuniziert werden, dass der bei der Mehrzahl der Menschen bestehende Wunsch nach häuslicher Versorgung nicht mehr maßgeblich sein soll. Faktisch wird den Menschen die Option Tagespflege abgeschnitten. Wenn sie sie aus dem zukunftsweisenden Betreuten Wohnen heraus weiterhin als extrem hilfreiches Entlastungsangebot für Angehörige und Partner in Anspruch nehmen wollen, wäre dann wieder bei mangelnder Leistungsfähigkeit der Sozialhilfeträger gefragt, womit dann die Tagespflegegäste in die Arme der Bürokratiekrake Sozialhilfe getrieben werden und letztendlich die Kommunalen wieder belastet werden würden. Dieser Irrweg passt zur Stärkung der vollstationären Pflege: Statt individuellen Pflegesettings Raum zu geben, werden die Menschen faktisch in vollstationäre Einrichtungen gedrängt, also in ein Versorgungssetting, das sie nicht wollen, in das sie aber monetäre Anreize zwingt. Wenn das heutige Pflegesystem Fehlanreize aufweist, dann im Bereich der Erhaltung und Stärkung vollstationärer Angebote.
Zur evidenten Notwendigkeit der Beseitigung von Mangellagen im Bereich ambulant betreuter Wohngemeinschaften schweigen die Eckpunkte. Damit verkennen sie nicht nur die subjektiven Wünsche der Menschen, sondern auch die objektiven Bedarfe. Hier bedürfen die gesetzgeberischen Überlegungen dringender Ergänzung: Geboten ist die flächendeckende Schaffung von wirksamen Anschubfinanzierungen, die bundesweite Einführung eines Leistungskomplexes „Betreuung in Wohngemeinschaften“, die gesetzliche Anerkennung angemessener Mieten sowie eine wirksame Entlastung der Pflegebedürftigen von gesetzlich und behördlich geforderten baulichen Zusatzaufwendungen durch ein „Bundespflegewohngeld“. Dies würde berücksichtigen, dass die Eigenleistungen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften für die Mieterinnen und Mieter von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung und ihrer Höhe nach mit den Pflege- und Betreuungskosten vollstationärer Einrichtungen zu vergleichen sind. Insofern ist die geplante Reduzierung der Eigenanteile für vollstationäre Pflegeeinrichtungen nicht nur kontraproduktiv, sondern führt zu einer weiteren existenziellen Benachteiligung von ambulant betreuten Wohngemeinschaften. In Folge der Kappung der Heimkosten vergrößert sich die rechnerische Kostendifferenz zwischen den beiden Versorgungsformen; spätestens der zuständige Sozialhilfeträger würde aufgrund eines Mehrkostenvergleichs eine gegen den Willen der Patienten gerichtete Zwangsheimaufnahme per Verwaltungsakt erlassen (vgl. § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII). Dies ist unbedingt zu vermeiden. Ganz im Gegenteil muss die bereits erwähnte Angebotslücke im Interesse der betreuungs- und pflegebedürftigen Menschen dringend und unverzüglich geschlossen werden. Die hier vorgeschlagenen Instrumente sind geeignet, hierzu einen wirkungsvollen Beitrag zu leisten.
Die Überlegungen, Dauerpflegebedürftigkeit zu vermeiden oder wenigstens zu reduzieren, verfolgen die richtige Zielsetzung. Dazu kann die Stärkung der geriatrischen Rehabilitation sicher beitragen, sei es strukturell oder finanziell. Rehabilitative Betreuung sollte aber nicht nur in „Spezialeinrichtungen“ erfolgen, sondern insbesondere und vor allem zu Hause, also ambulant strukturiert. Es ist ein Handlungsfeld der ambulanten Pflege: Sie ist nah am Patienten, sie sieht die Bedarfe, kann diese aber bei der gegebenen leistungsrechtlichen Situation nicht decken.
Rehabilitative Betreuung ist im System der Minutenpflege nicht möglich. Daher muss der Umfang ambulanter Leistungen erweitert werden: Den Pflegekräften muss generell mehr Zeit für Anleitung, teilhabeorientierte Mobilisation und Hilfe zur Selbsthilfe gegeben werden. Damit muss die entsprechende Erhöhung der Sachleistungspauschalen einhergehen. Wie wie oben bereits angemerkt springt das geplante Gesetzesvorhaben nicht nur grundsätzlich, sondern insbesondere auch in diesem Punkt zu kurz. Ergänzt werden muss das Leistungsspektrum durch einen „Leistungskomplex Rehabilitation“, zu erbringen durch spezialisierte Fachkräfte.
Die damit in Verbindung stehenden Überlegungen bzgl. der Stärkung der Kurzzeitpflege übersehen, dass der beste Ort für Genesung genauso gut die eigene Häuslichkeit sein kann, die es stets schon gibt – im Gegensatz zu den nicht vorhandenen externen Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Auch Kurzzeitpflege kann über eine ambulante Versorgung sichergestellt werden. Insofern müssen auch die Leistungen ambulanter Dienste in diesem Bereich adäquat refinanziert werden.
Zu begrüßen ist alles, was bewirkt, dass Pflege mehr Wert wird – monetär, aber auch auf die Reputation bezogen. Eine Tarifbindung als Zulassungsvoraussetzung kann hierzu ein geeignetes Instrument sein. Viel wirksamer jedoch ist, die Belastung der Pflegekräfte abzubauen oder wenigstens zu begrenzen. Dies betrifft aber nicht nur die vollstationären Pflegeeinrichtungen, sondern noch viel stärker die ambulanten Pflegedienste.
Eine Pflegereform, die das Prädikat „nachhaltig und zukunftsfest“ verdient, kann nicht nur 20.000 Pflegehilfskräfte in vollstationären Einrichtungen berücksichtigen. Der ambulante Sektor ist genauso betroffen. Geboten ist eine durchschlagende Strategie, dem Personalmangel im ambulanten Bereich zu begegnen. Hier schweigen sich die Eckpunkte völlig aus. Dazu gehört neben der Gewährleistung einer im Vergleich zu Pflegekräften in vollstationären Einrichtungen höheren Vergütung von ambulanten Pflegekräften auch – wie schon oben angesprochen – die Schaffung größerer Zeitdeputate, um die ambulante pflegerische Tätigkeit zu „entstressen“. Nach der Konzeptionierung eines Personalbemessungsverfahrens für den stationären Sektor ist dies für den ambulanten Bereich unverzüglich nachzufahren. Ein weiteres Instrument ist die Förderung örtlich kleinteiliger ambulanter Versorgungsangebote, in denen die Attraktivität kleiner Teams stärker wirken kann. Zu begrüßen ist das propagierte „job enrichment“: Das gilt für den stationären wie auch ambulanten Sektor.
Die Digitalisierung macht vor der Pflege nicht Halt. Deshalb sind alle Aktivitäten zur Digitalisierung, sei es nun als „Telepflege“ oder anderweitig benannt, zu begrüßen. Insbesondere der Bereich der sozialen Betreuung ist hier in den Blick zu nehmen: Face-to face-Betreuung kann in großem Umfang sowohl in Person wie auch per Internet erfolgen. Die Potentiale im Bereich der klassischen Pflege dürften eher begrenzt sein. Jedenfalls ist schon vor Abschluss eines sicherlich auf Jahre angelegten Modellprogramms die Telebetreuung mit angemessener Vergütung durch die Pflegekassen in den Leistungskanon der Pflegeversicherung aufzunehmen. So kann insbesondere in den gegenwärtigen pandemischen Zeiten, einer Vereinsamung und daraus resultierenden Gesundheitsverschlechterungen bei den älteren Generationen entgegengewirkt werden.
Pflege kostet immer mehr, sei es in vollstationären, teilstationären, ambulanten oder „hybriden“ oder polymodularen Settings. Die Erhaltung des Systems wird Milliarden Euro verschlingen. Das darf aber nicht hindern, finanzielle Anreize für individuelle Vorsorge für den Pflegefall zu stärken. Die Erhöhung der „Pflegezulage“ um 15 Euro / Monat springt allerdings zu kurz.
Die Grundsatzfrage „staatliche“ Vorsorge oder „private Vorsorge“ wird mit den Vorschlägen der Eckpunkte nicht gestellt, obgleich sie sich vor dem Hintergrund der Belastung der nachfolgenden Generationen stärker als bisher beantwortet werden muss. Die Antwort auf die Frage „Wer soll das bezahlen, wer hat soviel Geld?“ wird in den Eckpunkten beredt ausgeblendet.
War schon die Anhebung der Einkommensgrenzen und Vermögensgrenzen beim sozialhilferechtlichen Angehörigenregress ein gigantisches „Erbenschutzprogramm“, so wird die hierdurch provozierte soziale Ungerechtigkeit durch die Verteilung der Lasten der Pflege auf alle Steuerzahler noch verschärft. Dies zeigt die Notwendigkeit auf, endlich in tragfähige Überlegungen zur langfristigen Stabilisierung des Gesamtsystems einzusteigen. Auch hierzu gibt es bereits eine Vielzahl von Überlegungen und Vorschlägen, die von den Eckpunkten des Spahn-Ministeriums, die sich „Zukunftsfähigkeit“ und „Nachhaltigkeit“ auf ihre Fahnen geschrieben haben, unverständlicherweise nicht aufgenommen werden.
Ist Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, so ist diese auch gesamtgesellschaftlich zu lösen. In monetärer Sicht ist eine ganzheitliche Strukturreform der Finanzierung überfällig. Die Dualität von „Pflegekassenleistungen“ und Sozialhilfe in Gestalt der Hilfe zur Pflege ist aufzulösen; dann braucht es auch keine „Deckelung von Eigenanteilen“ oder „Landeszuschüssen zu Investitionskosten“.
Die Leistungen der Pflegeversicherung und die der Hilfe zur Pflege sind zusammenzuführen und einheitlich im SGB XI zu verankern und zwar im Zusammenspiel von Sachleistungspauschalen und individuellen Zuschüssen. Die deutlich anzuhebenden Sachleistungspauschalen – einheitlich über alle Sektoren (stationär, teilstationär und ambulant) – müssen die pflegegradabhängig erforderlichen Pflege- und Betreuungsleistungen signifikant abdecken. Dabei sind 75 % der erforderlichen Leistungen anzusetzen. Kann der Eigenanteil vom Einzelnen nicht geleistet werden, so sind einkommens- und vermögensabhängige Zuschüsse der Pflegekassen unter Anrechnung von privaten, staatlich geförderten Vorsorgeleistungen vorzusehen. Dies würde die kommunalen Kostenträger entlasten, eine bundeseinheitliche „Gleichwertigkeit der Pflegeverhältnisse“ schaffen, den Menschen tatsächlich Wahlfreiheit zwischen den unterschiedlichen Angeboten geben, die Schaffung neuer zielgruppengerechter Angebote fördern, redundante Strukturen beseitigen, die Hilfegewährung professionalisieren und vor allem auch die hilfebedürftigen Menschen von der „Armenfürsorge“ befreien. Die deutliche Anhebung der Sachleistungspauschalen und zwar nicht nur wie im Eckpunktepapier geplant um 5 %, sondern unter Aufgabe der Deckelungs- und Investitionskostenförderpläne auf mindestens 10 % wäre ein systemneutraler erster Schritt, ohne das Gesamtsystem in einer „Hauruck – Aktion“ mit unabsehbaren Folgen zu verändern. Dies muss dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs in der „Nach-Corona-Zeit“ überantwortet werden.
Diese monetären Aspekte sind wichtig, es ist aber zu kurz gedacht, alles nur darauf zu fokussieren, wie es die Eckpunkte tun. Die bereits angesprochenen Systemfragen sind zu diskutieren und zu beantworten: Welche Bedeutung haben (noch) die Wünsche der Pflegebedürftigen? Welche Versorgungssettings sind bedarfsgerecht für welche Zielgruppen? Wie soll das Finanzierungssystem aussehen? Wie soll die Lastenteilung zwischen den heute Pflegebedürftigen und ihren Kindern aussehen? Welche Funktionen und Aufgaben sollen von wem (Kostenträger) und in welcher Struktur erfüllt werden? Das durch diese Fragen angesprochene Ineinandergreifen der verschiedenen Zahnräder wird in den Eckpunkten nicht deutlich.
Und last, not least: Nicht nur Bundeszuschüsse helfen. Erforderlich ist vielmehr die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller Ressourcen. Es sind nicht nur materielle Faktoren, die zählen, auch immaterielle Wirkfaktoren sind stärker zu mobilisieren. Pflege ist kein Klientelthema: Pflege geht uns alle an!
Wenn es Ziel der Pflegereform 2021 ist, die Pflege nachhaltig zukunftsfest zu gestalten, so bleiben die Reformüberlegungen hinter der eigenen Zielsetzung deutlich zurück. Dafür sind folgende Gründe verantwortlich:
Der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft bewertet es als „Anschlag gegen die Pflege in Deutschland“, wenn ein Bundesgesundheitsminister in Zeiten der COVID-19-Pandemie, die alle Akteure in der Pflege bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit treibt, „Reform“-Überlegungen präsentiert, die breitester Diskussion bedürfen, welche gegenwärtig gar nicht geführt werden kann. Was das Land braucht, ist keine Pflegereform im Hau-Ruck-Verfahren. Wir benötigen vielmehr eine „Pflegereform 2030“, die den Namen verdient und nach intensivem gesamtgesellschaftlichen Diskurs die Pflege in Deutschland tatsächlich zukunftsfest macht.
Daraus folgt zwingend die Auftrennung der Pflegereform 2021 in zwei Schritte:
Der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft verlangt von der Bundesregierung wie auch von den Parlamenten, sich zu ihrer Verantwortung für eine nachhaltig zukunftsfähige Pflege in Deutschland zu bekennen, sich für einen wissenschaftlich begleiteten gesamtgesellschaftlichen Diskurs zur Pflege der Zukunft einzusetzen und einer Flickschusterei, deren Reparaturbedürftigkeit bereits heute aufscheint, zu widersetzen.
Der Fachverband wig fordert den Bundesgesundheitsminister auf, endlich die Pflegebedürftigen und die beruflich Pflegenden in den Mittelpunkt zu rücken – anstelle seiner eigenen Person und seiner politischen Ambitionen, die er mit seinem Pflegegesetzgebungsmarathon – sicherlich auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2021 – zu verfolgen scheint.