Fachverband wig warnt vor Preissteigerungen durch Tarifbindung ab 1. September – Gravierende Leistungseinschränkungen befürchtet – Sofortige Entlastung ambulant versorgter Patienten durch Anhebung der Sachleistungspauschalen um mindestens 50 Prozent
Die Einführung der Tarifbindung zum 1. September wird die Personalkosten bei nicht tarifgebundenen Pflegediensten um bis zu 50 Prozent in die Höhe treiben. Die Kostenexplosion betreffe insbesondere die Betreuungs-, Hauswirtschafts- und Pflegekräfte, warnt der WG-Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft in Gelsenkirchen. „Es kann nicht sein, dass 2021 für die stationäre Pflege ein Ausstieg aus der Sozialhilfe gefordert und teilweise umgesetzt wurde, ein Großteil der ambulant versorgten Patient*innen ab 1. September jedoch in die Sozialhilfe gedrängt werden“, kritisiert der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau.
Die Veröffentlichung der Referenzvergütungen durch den GKV-Spitzenverband hätten die Befürchtungen von Branchenkennern zu den Auswirkungen der Tarifbindung auf die häusliche Pflege noch übertroffen, so der Verbandsvorsitzende Claudius Hasenau. Das neue Gehaltsgefüge, das eine bessere Bezahlung von Betreuungs- und Pflegekräften festschreiben soll, werde zu gravierenden Leistungseinschränkungen in der ambulanten Versorgung führen und weitere Pflegebedürftige in die Sozialhilfe treiben.
Gesetzgeber hat Auswirkungen verkannt
Berechnungen von wig-Mitgliedsunternehmen stützen Hasenaus Aussage. Je nach Qualifikation werden sich Personalkostensteigerungen in der Bandbreite von 30 % bis fast 50 % widerspiegeln. Dies zeigt: So sehr eine angemessene Bezahlung geboten ist, so sehr hat der Bundesgesetzgeber die Auswirkungen auf die Pflegekunden verkannt: Die Punktwerte der Dienste, die die Preise bedingen, werden um diese Prozentsätze steigen müssen, um die höheren Personalkosten zu refinanzieren. Durchschnittlich 30 % bis 50 % höhere Preise führen bei unveränderten Sachleistungspauschalen zu einer proportionalen Reduzierung der von den Sachleistungspauschalen abgedeckten Leistungen. Konkret: Ab 01.09.2022 werden sich die Leistungen, die von den Pflegekassen bezahlt werden, fast halbieren.
Planmäßige Unterversorgung wird verschärft
Mit den aktuell geltenden Sachleistungspauschalen wird bereits ohne die vorprogrammierten Preiserhöhungen nur etwa die Hälfte der erforderlichen Leistungen abgedeckt, ermittelte der Fachverband wig. Die andere Hälfte wird dabei in der Mehrzahl der Fälle gar nicht erbracht, weil die Kunden bzw. deren Angehörige keine Eigenleistungen erbringen wollen und die Dienste deshalb Kostenvoranschläge erstellen, die passgenau auf die Ausschöpfung der Sachleistungspauschalen zugeschnitten werden. Nicht berücksichtigt wurden bisher zukünftige Kostensteigerungen bei den Sachleistungen nach Einführung des neuen Mindestlohnes spätestens ab 1. Oktober, so der Fachverband. Diese beträfen zum Beispiel Warenzulieferer oder Dienstleistungen wie Raumpflege oder Menü-Services, die zahlreiche Pflegedienste an Drittfirmen ausgegliedert hätten, so Claudius Hasenau.
Scheu vor dem Gang zum Sozialamt
Selbst in den Fällen, in denen Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII beansprucht werden könnte, gilt nichts anderes: Der Gang zum Sozialamt wird von den Angehörigen genauso gescheut wie von vielen Pflegediensten. Die Gründe liegen auf der Hand: Zum einen ziehen sich die Verfahren teilweise über viele Monate hin, zum anderen kürzen die Sozialhilfeträger regelmäßig Bedarfe. „Hilfe zur Pflege wird nach Kassenlage gewährt und nicht nach Pflegebedarf“, sagt der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau: „Bereits heute erleben wir eine flächendeckende Leistungsverweigerung durch die Sozialhilfeträger. Dass z. B. inkontinenten Pflegekunden die tägliche Ganzwaschung verweigert wird, ist leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel.“
Ambulante Dienste werden in die Qualitätsfalle geschickt
Mit der vorprogrammierten Kostensteigerung ab September wird die gegenwärtige latente Unterversorgung Pflegebedürftiger weiter verschärft. Dies bringt die ambulanten Pflegedienste in eine gravierende Risikolage: Als verlängerter Arm der Pflegekassen sind sie diesen zur qualitativ angemessenen Versorgung verpflichtet, was regelmäßig durch die Medizinischen Dienste überprüft wird. Wenn sich nun die Schere zwischen gebotenen Leistungen und beauftragten Leistungen immer weiter öffnet, nimmt das Risiko von Qualitätsmängeln zu mit der Folge von Beanstandungen dieser Mängel. Claudius Hasenau: „Unsere Dienste haben ihre Leistungen entlang einer qualifizierten Pflegeplanung zu erbringen. Spätestens ab September wird das nicht mehr möglich sein, weil die beauftragten Leistungsumfänge aus den beschriebenen Gründen abnehmen werden!“
Bedarfe detailliert dokumentieren
Wie jedoch können die Pflegeanbieter der Qualitätsfalle entgehen? Der Rechtsanwalt Dr. Lutz H. Michel, Justiziar des Fachverbandes: „Jedem Dienst ist dringend zu raten, in den Beratungsgesprächen den fachlich erkannten Bedarf detailliert deutlich zu machen. Die Anbieter sollten darauf hinzuweisen, welche pflegerische Versorgung erforderlich ist und die Kostenvoranschläge entsprechend gestalten. Folgen die Interessenten diesen nicht und beauftragen bewusst eine ,Unterversorgung‘, sollte diese Entscheidung und die dafür genannten Gründe dokumentiert werden. Ebenso ist zu dokumentieren, dass Hilfe zur Pflege beantragt werden kann, wenn die Finanzmittel der Pflegekunden oder ihrer Angehörigen die Finanzierung der gebotenen Pflege nicht ermöglichen.“
Wohngemeinschaften: Sofort mit Preisverhandlungen beginnen
Weil die bestehenden Versorgungsverträge im Zuge der Tarifpflicht automatisch beendet werden, sind nach Auffassung von wig – Wohnen in Gemeinschaft sofort nach der Entscheidung, welchem Vergütungssystem sich der Dienst anschließt, auch Vergütungsverhandlungen zu führen. Claudius Hasenau: „Dringendst geboten ist, die Kassen zu Verhandlungen über angepasste Punktwerte aufzufordern.“ Ambulante Dienste, die Wohngemeinschaften begleiten, sehen sich besonders hohem Druck ausgesetzt. Hasenau: „Ab September öffnet sich eine Lücke zwischen den Vergütungen und den in Wohngemeinschaften zu erbringenden Leistungen, die nicht durch Leistungskürzungen abgefangen werden kann. Eine vereinbarte 24-Stunden-Betreuung, die durch Leistungen nach ambulanten Leistungskomplexen refinanziert wird, kann nicht auf 18 Stunden reduziert werden.“ So sieht es auch wig – Justiziar Dr. Lutz H. Michel: „Ohne Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen, die die 24-Stunden- Präsenz transparent regeln und eine bedarfsgerechte Präsenz neben der Erbringung pflegerischer Leistungen sichern, wird es nicht mehr gehen.“ Deshalb empfiehlt der Fachverband Begleitern von Wohngemeinschaften – mit und ohne Vereinbarungen mit den Sozialhilfeträgern, umgehend das Gespräch mit den Sozialhilfeträgern zu suchen, um ab September nicht in Schieflagen zu geraten.
Erhöhung der Sachleistungspauschalen unumgänglich
Nach Einschätzung von wig – Wohnen in Gemeinschaft ist es dringend geboten, die drohenden katastrophalen Auswirkungen der Vergütungserhöhung ab September durch eine entsprechende Anpassung der Sachleistungspauschalen abzumildern. Claudius Hasenau: „Mit seinem ,Pflegereförmchen 2021‘ hat der Gesetzgeber die Blaupause geliefert: Die darin erfolgte Entlastung der stationär Pflegebedürftigen muss auch auf die ambulante Versorgung übertragen werden! Zur Wahrung des Status quo müssen die Sachleistungspauschalen ab September zwingend um mindestens 50 % angehoben werden! Mit diesen Forderungen wird der Fachverband wig wird mit Nachdruck auf die Politik zugehen!“